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Leto

So klingt der Aufbruch: Leto erzählt von der Rockmusik als Mittel des Widerstands in der Sowjetunion.

Text: Erwin Schaar / 12. Nov. 2018

Kirill Serebrennikow, Regisseur und Leiter des angesehenen Moskauer Gogol-Theaters, ist zur politischen Figur geworden: Mit dem fadenscheinigen Vorwurf, Förder­gelder unterschlagen zu haben, wurde er kurz vor Beendigung der Dreharbeiten zu Leto im August 2017 festgenommen und unter Hausarrest gestellt. Seinen Film konnte er nur mithilfe eines internetgesperrten Computers und via Notizen für seine Mitarbeiter_innen fertigstellen.

Das Resultat ist ein musikalischer, historischer, biografischer und auch politischer Film. Die Geschichte zu Beginn der Perestroika, Anfang der Achtzigerjahre, dreht sich um die Rockmusik, die das Leben von eher oppositionell eingestellten jungen Leuten bestimmte. Da Vorbilder wie Lou Reed, die Talking Heads, Iggy Pop oder David Bowie aus dem Westen kamen und deren Schallplatten schwarz gehandelt wurden, war dies für das sowjetische Regime mehr als nur ein Affront. Konzerte fanden abseits der Öffentlichkeit statt, von staatlichen Aufpassern überwacht.

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Ein Rockclub in Leningrad bildet das Herz dieser aufmüpfigen Bewegung, die so sehr einen jugendlichen Freiheitswillen ausdrückt und zudem den Geist westlichen Fortschritts atmet. Im Club gibt Maik ­Naumenko mit seiner Band Zoopark den Ton an und testet damit auch aus, was die Aufpasser durchgehen lassen. Auch im öffentlichen Leben ist die Musikerexistenz eine Herausforderung, obgleich Maik ein eher bürgerliches Leben mit seiner Freundin Natasha und ihrem gemeinsamen Kind in engen Wohnverhältnissen führt. Bei einem gemeinsamen Strandausflug mit den Fans der Band treffen sie den Gitarristen Viktor Tsoi, der mit seinen Liedtexten ein Lebensgefühl trifft, das Maik als lyrische Ergänzung seiner eigenen Musik erkennt. Seine Förderung Viktors wird ihn aber in einen persönliche Zwiespalt bringen, wenn Natascha ihn um die Erlaubnis bittet, Viktor küssen zu dürfen. Die sich entwickelnde Zuneigung von Viktor und Natascha scheint nur durch einen Pakt des Verzichts gelöst werden zu können.

Serebrennikow dient der einfache Handlungs­faden einer Beziehungsgeschichte vor allem als Klammer für die Präsentation der Musik, die für diese Lebensgeschichte prägend wird. In dem technisch oft etwas burschikos inszenierten Schwarzweissfilm gibt es farbige Inserts im Super-8-mm-Stil mit russischen und englischen Kritzeltexten und animierten Zeichnungen über Realbildern. Erinnerungen an die Undergroundfilme der Siebzigerjahre werden wach. Ein sporadisch auftauchender Erzähler unterbricht mit Texttafeln, und die Fahrt in einer Strassenbahn wird zu einem Musikvideo des Iggy-Pop-Songs «The Passenger», in den alle Anwesenden einstimmen. Im Kontrast dazu steht immer wieder die Brutalität der zivilen Polizei der späten Breschnew-Ära.

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Bei den widersprüchlichen Schilderungen und Beurteilungen der gegenwärtigen russischen Politik ist es schwer, den Stellenwert von Leto für Putins Regime einzuschätzen. Serebrennikow beurteilt seine künst­lerischen Bemühungen in Opposition zur offiziellen Politik folgendermassen: «Wir beleben eine Kultur, die für die Mächtigen und staatlichen Kulturrichtlinien inakzeptabel ist, in genau derselben Weise wie Leningrad 1983 weder die Zeit noch der Ort für Rockkultur in der UdSSR war.» Die Widersprüchlichkeit der gegenwärtigen russischen Kulturpolitik zeigt sich allerdings auch darin, dass der Film auf dem offiziellen Filmfestival in Sotschi gezeigt wurde und die staatliche Nachrichtenagentur eine positive Kritik veröffentlichte.

Dass Leto bei Insidern nicht nur auf Lob gestossen ist, machen die Urteile musikalischer Popgrössen deutlich. Der «Grossvater» des sowjetischen Rock, Boris Grebenschikow, beurteilte das Skript des Films als eine Lüge von Anfang bis Ende. Und der Musikproduzent Andrei Tropillo, der in den Achtzigern in seinem Studio Aufnahmen mit der Band Kino mit Viktor Tsoi arrangierte, beschreibt Serebrennikow als jemanden, dem die Rockkultur fremd ist.

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Lassen wir trotzdem die Musik des Films auf uns wirken. Und wenn die Inszenierung einleuchtend erscheint, gilt hier wohl, was der britischen Historiker Thomas Macaulay sagte: «Das beste Geschichtswerk ist eines, das solche Teile der Wahrheit vorführt, durch die am ehesten die Wirkung eines Ganzen entsteht.»

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2018 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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