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Glaubenberg

Geschwisterliebe, von Ovid inspiriert: «Nur innerlich siedet und wallt es.»

Text: Martin Walder / 18. Nov. 2018

Im neunten Buch seiner «Metamorphosen» erzählt Ovid von einer Geschwisterliebe. Es ist eine ergreifende Geschichte, angesiedelt im Zwischenreich von Wahn und Wirklichkeit, Traum und Wachzustand, von Entsagung und Begehren, Geheimnisqual und Selbst­offenbarung, von Schuld und Nichtschuld. So sehr ist Byblis angesichts ihres Zwillingsbruders Kaunos verstrickt. Von einer Gratwanderung um Leben und Tod wird erzählt, an deren Ende sich Byblis im Quell ihrer eigenen Tränen auflösen und meerwärts fliessen wird.

Auf Ovid (und offenbar biografisch Erlebtes) verweist der Titelvorspann von Thomas Imbachs neuem Film. Im Aufruhr einer jungen Frau von heute kommt er dem antiken Mythos nahe, wenn das Innenleben der Wirklichkeit und die Wirklichkeit dem Innenleben nicht mehr standzuhalten vermögen. In dieser Grenzzone bewegt sich Glaubenberg mit dem Mut und der künstlerischen Risikobereitschaft, die Imbach seit je auszeichnen.

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Byblis heisst hier Lena, ist Gymnasiastin in einer Deutschschweizer Stadt. Sie redet knapp und cool im Dialektslang ihrer Generation, und sie hat ein Geheimnis, das eigentlich gar keines ist, so offensichtlich spricht es wortlos aus jeder Pore, aus jeder Geste, jedem Blick: Lena liebt ihren Bruder Noah. «Weiss nume, es zieht mi zue dir hi, i cha nid vo der laa», singt ihr die Volksweise im Chor in den gemarterten Kopf. Glaubenberg zeichnet die Anatomie dieser Obsession nach. Von Ovid her findet sich manches transformiert: des Mädchens Not und Zerrissenheit; ihres Bruders Flucht vor ihr, hier auf eine türkische Grabungsstätte in Aphrodisias, wohin Lena ihn verfolgt; ihr briefliches Geständnis von etwas, das beide haargenau wissen und doch im Ausgesprochen-Unausgesprochenen belassen. Lenas Neid und ihre Eifersucht auf Noahs vermeintliche oder reale Freundinnen, die sie mit ihrer Handykamera penibel in den Sucher nimmt. Da färbt sich ihr Gesicht in der Disco grün und gelb und blau. Wie metaphorisch brillant ist das in bloss sekundenschnellem Aufleuchten evoziert!

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Von Ovid inspiriert ist auch Lenas Wunschtaumeln hinein in Schlaf und Traum, zu Hause, in der Schulbank, auf der Suche, das zu (er)leben, was sie sich wach nicht gestatten darf und in Scham und Erschrecken (noch) Abwehr provoziert. Nur um sozusagen mit Ovids Byblis zu erkennen: «Mit der Besinnung jedoch ist wiedergekommen der Wahnsinn.» Lenas vielleicht schrecklichster Trugschluss, der in jeder (Sehn-)Sucht steckt, ist ihr Glaube, dass in wenigstens einmaliger Erfüllung Heilung zur Normalität liegen könnte. In ihren Wahrnehmungsverschiebungen sind Raum und Zeit aufgelöst und doch von glasklarer innerer Logik. Vordergründig verortet der Film die Geschichte real in Lenas Schülerinnen- und Familien­alltag. Rückblenden in die geschwisterlichen Balgereien der Kindheit sind leicht erkennbar, gerne in Zeitlupe und mit Lukas ­Langeneggers suggestivem Soundtrack verfremdet. Familien­systemische ­Adoleszenzmotive werden beiläufig platziert (Zuwendung des Vaters, provozierende Zärtlichkeiten des Elternpaars). Schön sodann, wie es vor allem ältere Frauen mit feinen Antennen sind, die die Odyssee der jungen Frau kreuzen. Schon schwieriger auszumachen sind in den Überblendungen von Bewusstheit und Unbewusstem die obsessiven Tagträume. Die Filmmontage lässt uns damit wohl mit Absicht zunehmend allein. Was ist «real» und verlässlich?

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Lenas Präsenz ist es. Und wiederum vordergründig könnte man feststellen, Imbachs hypersensible Kamera sei doch sehr in das grosse, schöne Gesicht seiner Hauptdarstellerin verliebt – wie könnte sie anders. Bis man dieses Gesicht in den Grossaufnahmen mit der Zeit als regelrecht eingesperrt wahrnimmt in der unbedingten Art, wie Lena alles um sie herum registriert und deutet – es ist die Unbedingtheit und Kraft des Wahns. Fabelhaft, welche Facetten Zsofia Körös hier wie in kaltem Fieber zum Ausdruck bringt. Selbst unsere eigene Wahrnehmung bleibt davon desto weniger verschont, je ungesicherter zwischen Realität und Einbildung Lenas Suche in der Türkei und danach in der innerschweizerischen Urlandschaft des Orts Glaubenberg erscheint und unsere Zweifel nochmals rückwärts spulen lässt: Welche Wirklichkeit im Film kommt da eigentlich Lenas Eltern zu – der Vater in offenbar stiller Komplizenschaft mit der Tochter, die Mutter spröde distanziert? Muten sie im Grunde nicht etwas freakig an? Und ist dem zunächst warm zugewandten Blick von Lenas neuer Chemielehrerin Julia als vermuteter Liebhaberin ihres Bruders zu trauen? Was hat es mit der peinlichen und mehr als rüden Blossstellung Lenas vor versammelter Familie durch ihren Ersatzlover Enis auf sich, dem sie in Noahs Bett dessen T-Shirt und Mütze aufgedrängt hat? Und ganz banal: Wie hat die Minderjährige so leicht allein den Flug bis in die Türkei geschafft?

Wir beginnen zu spekulieren. Ob wir in Glaubenberg möglicherweise durchs Band in Lenas innerer Wirklichkeit mit gefangen und befangen gewesen sind? Deutet der Umstand, dass Lena am Ende dasselbe blaue Kleid trägt, das sie zu Beginn anlässlich von Noahs Maturafeier getragen hat, darauf hin, dass der «reale» Plot nur gefiltert im Prozess ihrer langsamen Auflösung geschieht? Gewiss zu weit insinuiert, doch liegt die Spannung des Films just in solch komplexem Spiel mit den Ungesichertheiten auch unserer Wahrnehmung vor der Leinwand. Man muss in Glaubenberg genau hinschauen

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Dann ist da noch etwas Wichtiges, was die Aufmerksamkeit zurück ganz zum Anfang in Erinnerung ruft. Wenn wir in der Folge Lenas Bruder hauptsächlich, aber eben nicht nur, als ihren Schatten erleben, wird in der Vorspannsequenz die Schwester mit einer Art Warnung an ihn als sein nicht minder mächtiger Schatten etabliert. Eines Bruders, dem seine Schwester ebenfalls nicht gleichgültig ist, dem eigene Liebesbeziehungen so wenig glücken wollen wie ihr, der ihr durch seine Flucht vergeblich zu entkommen sucht. Der manchmal so tief ratlose Blick von Francis ­Meiers Noah macht es bei aller Zurückhaltung dringlich spürbar. Dass das Mädchen um ihre Gefährlichkeit weiss, nimmt ihrem Wahn keineswegs die Spitze. Er wird dadurch bloss noch schrecklicher menschlich.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2018 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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