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La paranza dei bambini

La paranza dei bambini (Piranhas), der nach dem gleichnamigen Roman von Roberto Saviano («Gomorrha») entstanden ist, hat an der diesjährigen Berlinale den Silbernen Bären für das beste Drehbuch erhalten. Der Film erzählt eindrücklich von neapolitanischen Jungendbanden, ohne die Gewalt zu zelebrieren, sondern die sozialen Umstände, die die Kinder kriminell werden lassen, zu beleuchten.

Text: Elia Molo / 24. Juli 2019

Eine Bande von Jugendlichen stiehlt offenbar grundlos einen riesigen Weihnachtsbaum und feiert diese Leistung mit einem Lagerfeuer, um das die Jungen mit entblösstem Oberkörper und Kriegsbemalung herumtanzen. Die sinnlose Mutprobe und die übertriebene Feier machen uns Zuschauer_innen von Anfang an klar, dass die Protagonisten von La paranza dei bambini in erster Linie Kinder sind, die alberne, aber gefährliche Spiele spielen, um sich gross und mächtig zu fühlen. Mit jedem «Spiel» wird der Einsatz höher, und die Jugendlichen versuchen schliesslich, gleich den ganzen Stadtteil Sanità zu übernehmen. Unvermeidlich beginnen die Bandenmitglieder, Menschen zu verlieren, die ihnen lieb sind, und sind gezwungen, immer schwerwiegendere Taten zu begehen, bis es keinen Ausweg aus diesem Teufelskreis gibt, ausser dem Tod.

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Es ist diese ständige Erinnerung an den Tod, die die Stimmung und den Rhythmus des gesamten Films bestimmt und die schwerwiegenden Folgen der «Spiele» betont. La paranza dei bambini konzentriert sich auf ungewöhnlich junge Kriminelle und bietet so wertvolle Einblicke in den facettenreichen Machtkampf im vom Verbrechen geplagten Neapel, ohne dabei in stereotype Darstellungen der Mafia und Süditaliens zu verfallen. Die Bandenmitglieder werden nicht als gierige und zwielichtige Drogenabhängige dargestellt, sondern als normale Kinder, die durch die Umstände, in denen sie leben, zu Verbrechen verleitet werden. Sie leben in einer Gesellschaft, die Gewalt und Kriminalität normalisiert und Luxus und Prestige preist. Dennoch weigert sich der Film, dem Verhältnis zwischen den Handlungen der Bande und der Gesellschaft zu viel Aufmerksamkeit zu schenken, und konzentriert sich darauf, was es bedeutet, sowohl Teenager als auch Krimineller zu sein, und auf die Schwierigkeit, in Neapel eine Zukunft aufzubauen.

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Die Tatsache, dass die meisten Dialoge auf Neapolitanisch sind, macht den Film authentischer und die Figuren plastischer. Die Dialoge sind ausgesprochen gut geschrieben und betonen mit der Verwendung des Teenager-Slangs den Unterschied zwischen der Jugendlichen- und der Erwachsenenwelt. Dass die jungen Männer das Standarditalienisch vernachlässigen, unterstreicht ihre Verbundenheit mit Neapel. In anderen Regionen Italiens wären sie nie so erfolgreich, denn ihre Macht ist, ähnlich wie ihre Sprache zeitlich und räumlich begrenzt. Die einzige Figur, die oft Italienisch und nicht Neapolitanisch spricht, ist Letizia. Sie ist weniger mit Neapel verbunden und hat das Potenzial, ihren redlich Lebensunterhalt zu verdienen. Tatsächlich scheint sie den Hunger nach Macht und Geld der anderen Figuren nicht zu teilen. Sie hängt nur aus Liebe zu Nicola, dem Anführer der Bande, mit den Kindern herum und scheint desinteressiert und fast ahnungslos in Bezug auf die kriminellen Aktivitäten ihres Freundes. Doch die kriminellen Banden sind auch für ihr Umfeld zerstörerisch, und so wird auch Letizia wird die Folgen der Verbrechen von anderen tragen.

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Obwohl der Film durchaus einen sozialen Kommentar anbringt, moralisiert er nicht und vermittelt seine Botschaft eher zurückhaltend. Die meisten Actionszenen unterscheiden sich stark von klassischen Actionfilmen, da der Regisseur verhindern wollte, dass die Zuschauer_innen die spannenden Sequenzen geniessen. Vielmehr bieten Nahaufnahmen der Kinder und lange Einstellungen dem Publikum die Möglichkeit, über die Absurdität der Verbrechen nachzudenken. Gewalt kommt im Film zwar vor, aber nur am Rande. Die stille und doch konsequente Kritik des Films an Gewalt und Gier zeigt, dass Auswirkungen von Gewalt begrenzt und kurzlebig sind und letztlich zu Tod oder Verzweiflung führen.

Die kindliche Naivität wird auch durch den italienischen Originaltitel angedeutet, der wörtlich übersetzt «die Kinder-Paranza» bedeutet, wobei «paranza» das neapolitanische Wort für eine bewaffnete Gruppe innerhalb der Gomorrha ist, aber auch für Jungfische verwendet wird, die vom Licht der Fischer angezogen in deren Netze gehen. Die Kinder sind von der Aussicht betört, reich zu werden und jene Luxusprodukte zu erwerben, die ihnen die Konsumgesellschaft als ein Muss anpreist. Und das, obwohl sie wissen, dass sie beim Versuch, diesen Luxus zu erreichen, wahrscheinlich sterben werden.

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Die Adaption des Romans von Roberto Saviano (Schriftsteller von «Gomorrha» und Kodrehbuchautor des Films) konzentriert sich auf die weniger bekannte Seite der Gomorrha und zeigt, dass Erwachsene nicht die einzigen für die Verbrechen Süditaliens Verantwortlichen sind und dass bewaffnete Jugendliche genauso gefährlich sein können wie ihre Väter. Trotz einiger Schwächen des Schauspiels und einer eher ideenlosen Regie gelingt es dem Film, eine starke Erzählung mit einer gesellschaftlichen Kritik zu vereinen.

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