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Nuestro tiempo

Die Quelle des Lebens ist nicht in der fixen Idee eines Künstlers zu suchen, sondern in der Welt, wie sie daliegt, um gesehen zu werden.

Text: Michael Pfister / 22. Apr. 2019

Carlos Reygadas ist ein Meister der Ouvertüre: Batalla en el cielo (2005) beginnt mit einer meditativen Fellatio zu moderner Kirchenmusik des englischen Komponisten John Tavener, an deren Ende die geschlossenen Augen einer jungen Frau aufspringen und zwei Tränen entweichen lassen; in der Anfangssequenz von Post tenebras lux (2012) tapst ein kleines Mädchen jauchzend auf einem regendurchtränkten Fussballplatz zwischen glöckelnden Kühen, galoppierenden Pferden, hechelnden und kläffenden Hunden herum, bis sich der rosige Himmel bedrohlich verdunkelt und ein Gewitter heraufzieht. Nuestro tiempo, der fünfte Spielfilm des mexikanischen Regisseurs, entfaltet in den ersten zwölf Minuten eine grandiose Kosmologie: In einem ausgetrockneten See spielen Gruppen von Kindern und Jugendlichen unterschiedlichen Alters, necken sich, bewerfen sich mit Schlamm und sehen dabei aus, als hätte sie Prometheus selbst soeben aus feuchtem Lehm geformt. Die jüngeren Mädchen fläzen sich in ein Gummiboot, massieren einander und werden von den Jungs überfallen. Die Teenager bilden bereits eine gemischte Gruppe, probieren erste Flirts und Küsse. Nach dem Chaos und der «breitbrüstigen Gaia», der Erde, so besingt es schon Hesiod, entstand beim Weltenanfang sogleich «Eros, der schönste der unsterblichen Götter, der gliederlösende, der allen Göttern und Menschen den Sinn in der Brust überwältigt und ihr besonnenes Denken».

Von gelösten Gliedern und verlorener Besonnenheit handeln alle Filme von Carlos Reygadas, der nie mit Berufsschauspieler_innen arbeitet. Diesmal verkörpert er selbst den preisgekrönten Dichter Juan, der zusammen mit seiner Frau Ester (Reygadas’ Frau Natalia López, die für den Schnitt mehrerer seiner Filme verantwortlich war) auf einem Rancho im kleinen Bundesstaat Tlaxcala, östlich von Mexiko-Stadt, Kampfstiere züchtet. Die beiden heuern einen amerikanischen Pferdeflüsterer namens Phil an. Als es zwischen Phil und Ester funkt, ermutigt Juan seine Frau im Zeichen der offenen Beziehung, die sie immer führen wollten, sich auf eine Affäre mit dem Gringo einzulassen; gleichzeitig versucht er, die Liebesgeschichte zwischen den beiden zu kontrollieren und zu manipulieren.

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Es weht ein Hauch von John Hustons The Misfits (1961) über die karge Landschaft mit ihrer Western-Atmosphäre. Reygadas’ Männerfiguren sind zwar bei weitem nicht so kaputt und verlebt, nicht so «toxisch männlich» wie Clark Gable und Montgomery Clift als Mustangfänger und Bullrider in der Wüste von Nevada. Aber die schulterklopfende Kumpanei, mit der sich Hustons derbe Kerle die deroutierte, depressive Roslyn (Marilyn Monroe) zuspielen und über sie verfügen, klingt in den E-Mails nach, die sich Juan und Phil schicken. Ester ist kein verhuschtes Schätzchen, sondern der eigentliche Boss auf der Ranch, immerhin reitet sie besser als ihr Mann. Aber zur Projektionsfläche der Männer wird sie dennoch. Wenn Montgomery Clift zu Marilyn Monroe sagte, ihre Augen seien voller Vertrauen, «als sei sie gerade geboren worden», beobachtet Juan seine Frau heimlich beim Liebesspiel mit dem Nebenbuhler, um einen «Gesichtsausdruck», einen «Blick» wiederzufinden, von dem er «jeden Millimeter kannte», der ihm aber abhandengekommen ist. Reygadas zeigt uns die «Misfits» unserer Zeit, das, was zwischen uns immer noch nicht aufgehen und zusammenpassen will, auch wenn wir noch so aufgeklärte, aufgeschlossene und kultivierte Zeitgenoss_innen sind. Wenn Juan Ester mit Fragen über ihre Gefühle und Erlebnisse löchert, erinnert er manchmal zum Fremdschämen an Woody Allen: ein Hacienda-Neurotiker.

Wie für Hegel die Philosophie «ihre Zeit in Gedanken erfasst», so spiegelt Nuestro tiempo unsere Zeit in Bildern und Tönen. Wenn Ester ihrer Hausangestellten per Funkgerät Anweisungen gibt, welche Salsa sie den Kindern vor dem Zubettgehen zubereiten soll, oder wenn sich der verzweifelte Juan von derselben Hausangestellten einen Kaffee zubereiten lässt und sie zum Dank flüchtig an der Schulter berührt, so sagen diese beiläufigen und doch so fein beobachteten Szenen mehr über das Verhältnis der «europäischen» Mittelschicht Mexikos zu ihren indigenen Hausangestellten aus als das ganze Melodrama von Alfonso Cuaróns Roma.

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Der ursprüngliche Titel des Films lautete «Donde nace la vida» – wo das Leben geboren wird … Und das ist vielleicht der innerste, innigste Wunsch von Reygadas’ Filmkunst: dem Leben beim Geborenwerden zuzuschauen, ja, als Hebammenkünstler das Leben zur Welt zu bringen. Genau da liegt die Weisheit des Films: in der Einsicht, dass die Quelle des Lebens nicht in der fixen Idee eines Mannes, eines Künstlers zu finden ist, sondern in der Welt, wie sie daliegt, um gesehen zu werden. Es ist auch diesmal eine Welt der schockierenden Gewalt – etwa wenn ein Kampfstier, Emblem des Machismo, auf ein Maultier losgeht und ihm mit den Hörnern die Eingeweide aus dem Leib reisst. Aber vor allem lebt Nuestro tiempo von unspektakulären, geduldigen Bildern einer unbewegten Kamera, die fast ohne Dialog und Drama auskommen: Ein Pick-up fährt im Abendlicht an einer Baumreihe vorbei, in den Blättern spielt ganz leicht der Wind, ein paar Vögel fliegen darüber hinweg und suchen sich einen Schlafplatz; der Regen weicht die rissigen Erdschollen auf; minutenlang blicken wir auf ein geschlossenes Tor, vor dem drei Schäferhunde dösen, hören dabei eine Suite von Alfred Schnittke und eine heitere Kinderstimme, die uns von den Seelen-nöten des Protagonisten berichtet; im Morgennebel, zwischen knorrigen Bäumen, ächzen archaisch und obszön die Stiere; im Palacio de Bellas Artes, Mexikos berühmtestem Konzertsaal, hören wir ein Paukenkonzert, das klingt wie der Herzschlag der Welt. Und als Ester mit selbstvergessener Miene in ihrem Pick-up von einem Schäferstündchen mit Phil auf den Rancho zurückkehrt, finden wir uns unversehens im Motorraum des Autos wieder, wo die Schläuche vibrieren und die Riemen rotieren – zum Sound der CD, die Ester eingeschoben hat: «Carpet Crawlers» von Genesis, mit dem berühmten Refrain «You gotta get in to get out». Mittendrin sind wir im Getriebe des Begehrens.

Weil Reygadas und seine Frau diesmal selbst spielen, wurde in den Medien bereits nach autobiografischen Hintergründen, sprich: Ehekrisen gesucht. Doch es geht nicht um Knausgård’sche Selbstexhibition. Autobiografisch ist nur, dass Reygadas einen Lyriker spielt. In seiner leidenschaftlichen und präzisen Suche nach Klang, Rhythmus, Farben, Metaphern ist der Film – ein Gedicht.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2019 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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