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François Truffaut

Filmen heisst das Leben nehmen – diesen Aphorismus von Jean Cocteau haben die französischen Cineasten gut gelernt, und es gibt kaum einen Film von Truffaut, in dem nicht auch gestorben würde. Im übrigen aber hatte er keinen Mangel an Stoffen. Dazu bekennt sich auch Ferrand, der fiktive Regisseur des fiktiven Films «Pamela»: er braucht wie Truffaut nur die Zeitung aufzuschlagen. On peut faire des films de n’importe quoi.

Text: Peter W. Jansen / 01. Apr. 2001

Also jetzt bitte mehr Leben, los. Los mit dem Ausputz. Temperamentvoller der Zeitungshändler. Schneller die Dame mit dem Hund. Werdet mir nicht so lahm. Mehr Bewegung an der Metro. Wo bleibt das weisse Auto? Alphonse, fertig? Alphonse, komm jetzt aus der Metro. Bitte etwas schneller. Ein bisschen mehr Bewegung vor dem Café. Die Dame mit dem Hund, gehen Sie jetzt weiter. Das rote Auto, bitte. Schneller das rote Auto, fahren Sie raus, raus aus dem Bild. Achtung, Walter, wir gehen jetzt auf Alexandre. Wir gehen näher auf ihn.

Nizza im Herbst 1972, in den Studios von La Victorine dreht François Truffaut einen Film, in dem es um Film geht, um die Arbeit an dem Film «Je vous présente Pamela». Der erzählt eine Geschichte, wie sie ganz ähnlich zwanzig Jahre später Louis Malle filmen wird: ein junger Mann bringt eine junge Frau in die Familie, und Schwiegervater und Schwiegertochter verlieben sich heftig ineinander; ihre amour fou führt in die Katastrophe. Was bei Louis Malle Damage nicht nur heissen wird, ist für Truffaut nichts als der willkommene Anlass, über das Filmemachen und das Kino nachzudenken. Indem er einen Film übers Filmemachen macht.

Der Film übers Filmemachen heisst La nuit américaine, womit ein Aufnahmetrick gemeint ist, der bei Tageslicht gedrehte Bilder als Nachtaufnahme erscheinen lässt; die Amerikaner nennen die «amerikanische Nacht»: day for night. La nuit américaine ist Truffauts sechzehnter Film und sollte so etwas wie ein vorläufiger Schlussstein in seinem bisherigen Œuvre sein. Tatsächlich wird er erst zwei Jahre später wieder zu filmen anfangen – und dann für acht Filme nur noch acht Jahre zu leben haben, bis ein Tumor diesen wunderbaren Kopf zerstörte.

Im Herbst 1972 ist der Tod nur etwas, was im Kino passiert, auch in diesem Film-im-Film «Je vous présente Pamela», wenn der Sohn den Vater erschiesst, aber auch in La nuit américaine selbst, wenn der Darsteller des Vaters bei einem Unfall ums Leben kommt. Filmen heisst das Leben nehmen – diesen Aphorismus von Jean Cocteau haben die französischen Cineasten gut gelernt, und es gibt kaum einen Film von Truffaut, in dem nicht auch gestorben würde. Im übrigen aber hatte er, sowenig wie in Deutschland Rainer Werner Fassbinder, keinen Mangel an Stoffen. Dazu bekennt sich auch Ferrand, der fiktive Regisseur des fiktiven Films «Pamela»: er braucht wie Fassbinder, er braucht wie Truffaut nur die Zeitung aufzuschlagen. On peut faire des films de n’importe quoi.

Jetzt stecken wir mittendrin im Abenteuer. Vor Beginn von Dreharbeiten wünsche ich mir vor allem, dass der Film schön wird. Sobald die ersten Schwierigkeiten auftauchen, werden meine Ambitionen kleiner, und ich hoffe einfach nur noch, dass wir den Film zuende bringen. Gegen Mitte der Dreharbeiten prüfe ich mein Gewissen und sage mir: du hättest besser arbeiten können. Du hättest mehr geben können. Doch jetzt bleibt nur noch die zweite Hälfte des Films, um das wieder gut zu machen. Und von diesem Moment an gebe ich mir Mühe, alles lebendiger zu machen, was auf der Leinwand gezeigt werden soll. (…) Die Schauspieler kommen leicht mit ihren Rollen zurecht, das Team hält gut zusammen, private Probleme zählen nicht mehr. Das Kino regiert.

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(Bild: La nuit américaine)

Triumphierender ist selten über das Kino gesprochen worden. François Truffaut spielt selbst Ferrand, den Regisseur des Films im Film, und alles, was Ferrand sagt, sagt auch Truffaut. Weil der Film im Film nur Sinn macht für ihn, wenn Film und Leben zur Deckung gelangen. Als Fassbinder seinen Film übers Filmemachen drehte, nannte er ihn Warnung vor einer heiligen Nutte und überliess mit seiner Lederjacke die Rolle des Regisseurs dem Schauspieler Lou Castel. Truffaut, der seine Lederjacke in anderen Filmen durchaus weitergeben kann, wenn es ihm darauf ankommt, sich selbst in anderen zu erkennen zu geben, trägt sie auch als Ferrand.

Als man ihn einmal fragte, was, einmal abgesehen vom Kino, er sonst so mache, sagte er: Nichts.

«Früher betrachtete ich alles, was es sonst noch im Leben gibt, als Konkurrenz zum Kino. Ich konnte das Theater nicht leiden, weil es ein Konkurrent des Kinos war. Aber aus dem gleichen Grund fuhr ich auch nicht zum Wintersport. Ich kann nicht Ski laufen, ich kann nicht schwimmen, ich kann überhaupt nichts. Ich würde zu keinem Rennen gehen, zu keinem Wettkampf, weil ich den Eindruck hätte, das Kino zu verraten … Ich habe mich in dieser Hinsicht etwas geändert mit der Zeit, ich bin toleranter geworden. Ich habe nichts mehr dagegen, wenn andere Leute zum Angeln gehen oder auf die Jagd oder Ski laufen. Aber ich selbst nicht, nein, ich nicht.»

Und einige Jahre später, nicht lange vor seinem Tod:

«Ich habe keine Lust, etwas anderes zu machen als Filme. Würde ich blind werden, dann würde ich versuchen, als Mitarbeiter an Drehbüchern weiterzumachen.»

Kapitel Eins.
Antoine Doinel und der Wolfsjunge.

Oder: Die Verteidigung der Erziehung.

Im Spätherbst 1958 – er ist sechsundzwanzig Jahre alt – dreht Truffaut seinen ersten langen Spielfilm: Les quatre cents coups. Die Eingangs-Sequenz ist wie eine Ouvertüre und eine Liebeserklärung an Paris. Die Kamera gleitet durch die Strassen und schwenkt lange Häuserreihen ab, und immer wieder kommt, um die nächste Ecke, der Eiffelturm ins Bild. Und dann, im Weichbild des Eiffelturms am anderen Ufer der Seine, das Palais Chaillot, in dem die Cinémathèque Française zu Hause war, die Heimat von Rivette und Rohmer, Godard, Chabrol und Truffaut, die Gynäko­logie der Nouvelle vague. Les quatre cents coups ist dem Gedächtnis von André Bazin gewidmet, und Bazin ist nicht nur Gründer und Chefredakteur der «Cahiers du Cinéma», nicht nur der geistige Ziehvater der Nouvelle vague, er war für Truffaut auch so etwas wie ein Adoptivvater. Er war es, der den Sechzehnjährigen dazu ermutigte, seine Kinoleidenschaft nicht mehr mit schlechtem Gewissen zu erleben, sondern zu akzeptieren – und später: sie schreibend produktiv zu machen.

«Meine ersten zweihundert Filme habe ich im Stande der Heimlichkeit gesehen, im Schutz der Schule, die ich schwänzte, indem ich mir durch den Notausgang oder die Toilettenfenster des Kinos freien Eintritt verschaffte, oder auch, indem ich abends die Abwesenheit meiner Eltern ausnutzte – wenn sie zurückkamen, musste ich wieder im Bett liegen und tun, als ob ich schliefe …

Ich habe Filme immer in einem Zustand von Schuldbewusstsein gesehen. Ich war im Kino immer in einem Zustand schrecklicher Angst. Wenn man Filme in einem solchen Zustand sieht, sind alle Filme Kriminalfilme …

Ich verspürte ein grosses Verlangen, in die Filme einzudringen, und das gelang mir, indem ich immer näher an die Leinwand heranrückte und so den Zuschauerraum hinter mir versinken liess …

Ein erstes Stadium bestand darin, möglichst viele Filme zu sehen; ein zweites war, dass ich mir beim Verlassen des Kinos den Regisseur merkte; ein drittes, dass ich dieselben Filme immer wieder sah und meine Auswahl dabei vom Regisseur abhängig machte. Das Kino wirkte in diesem Abschnitt meines Lebens wie eine Droge …

Es kam vor, dass ich einen Film innerhalb eines Monats sechs- oder siebenmal sah, ohne dass ich deshalb seine Handlung korrekt hätte wiedergeben können: in einem bestimmten Moment berauschten mich ein Musikeinsatz, eine nächtliche Verfolgung, die Tränen einer Schauspielerin, sie entrückten mich und rissen mich mehr hin als der Film selbst …

Indem er mich zu schreiben ermutigte, hat mir Bazin einen grossen Dienst erwiesen. Die Notwendigkeit, das eigene Vergnügen zu analysieren und zu beschreiben, macht uns zwar nicht schlagartig vom Amateur zum Professionellen, aber sie bringt uns zurück aufs Konkrete und weist uns immerhin einen Platz zu, den – mehr oder weniger schlecht definierten – des Kritikers.»

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(Bild: L'amour en fuite)

Der Blick ist an den Filmen von Renoir und Rossellini geschult, wenn die Kamera die engen und hässlichen Wohnverhältnisse ins Auge fasst, die nur Enge, Kälte und Hässlichkeit hervorbringen können. So dicht an einem nahezu dokumentarischen Realismus allerdings wird Truffaut, Verächter des Dokumentarfilms, nicht bleiben; seine Filme werden immer mehr Kino-Erzählungen, Artefakte und Kunst-Stücke werden – aber sie bleiben Filme über die kaum einmal gelingenden Beziehungen zwischen den Menschen, und sie sind geradezu traumatisch geprägt, was Ehe und Familie angeht.

Doinel, mit Jean-Pierre Léaud, der nie Schauspielunterricht hatte und haben wird, hat Truffaut auf Anhieb sein alter ego gefunden. Léaud, der später auch bei Rivette und Godard und vielen anderen spielen wird, bis hin zu Aki Kaurismäki, wird noch in vier weiteren Filmen Antoine Doinel sein, der eher schüchterne und durchaus sympathische schwache Mann. Im amerikanischen Kino wäre er der nette boy next door und der Typ des Versagers, bei Truffaut ist er nur liebenswürdig und der junge Mann, der sich seinen Lebensunterhalt mit dem Färben von Blumen oder als Verkäufer oder Detektiv zu verdienen sucht, während er mit den Frauen, selbst wenn sie hinter ihm her sind und er seinen wechselhaften Appetit durchaus stillen kann, kein Glück hat – bis hin zu L’amour en fuite.

So endlich heisst 1978 der letzte der Antoine-Doinel-Filme, und der Protagonist ist dreissig Jahre alt und zur Kunstfigur geworden, wie auch der Film synthetisch ist. Er besteht zur Hälfte aus Rückblenden, in denen achtundsechzig Ausschnitte aus neun Filmen Truffauts zitiert werden, ein höchst artifizielles und amüsantes Puzzle-Spiel für Truffaut-Kenner, aber um den Preis der Kälte und Vereisung.

Kein Wunder, dass Truffaut L’amour en fuite einen «tödlichen Film» nannte und ihn für misslungen hielt. Immerhin bringt er die Wiederbegegnung mit Marie-France Pisier, die Antoines erste Freundin Colette spielte, die erste von vielen ihm weit überlegenen Frauen. Antoine et Colette hiess die Episode, die Truffaut 1961 zu dem Omnibus-Film L’amour à vingt ans beitrug. Während Colettes Eltern, und wieder gehört, wie in Les quatre cents coups, zur Mutter ein Stiefvater, Gefallen an dem jungen Mann finden und ihn am liebsten als eine Art von Kitt in ihre allmählich zerbröselnde Familie aufnehmen würden, macht sich Colette nicht viel aus Antoine. Sie mag sich auch im Kino nicht von ihm küssen lassen. Sie ist es endlich, die einen Satz zu sagen hat, der das Trauma fast aller Figuren Truffauts umschreibt.

Haben Sie noch Vater und Mutter? – Ja, aber ich sehe sie nicht oft. Ich verstehe mich nämlich nicht sehr gut mit den beiden. – Oh, das ist aber schade. Ihre Mutter ist bestimmt sehr traurig, Sie so selten zu sehen. – Das ist meine Schuld bestimmt. Ich bin ein paarmal abgehauen, als ich noch zu Hause war. – Colette würde uns diese Freude nie machen. – Das hättest du gern. – Also für mich ist die Familie … – Sekunde! Frage: wo ist es schöner als in der eigenen Familie? Antwort: fast überall.

Albinoni vom Soundtrack zum Kofferpacken, Antoine Doinel bereitet seinen Umzug vor. In den Filmen von Truffaut, für die Georges Delerue, aber auch Maurice Jaubert, Antoine Duhamel und Bernard Herrmann komponiert haben, wird die strenge Form der Barockmusik immer dann bevorzugt, wenn in die Gefühle Unruhe und Unordnung eingezogen sind. Bach oder Albinoni oder Vivaldi, sie signalisieren auch das Element von Kultur und Erziehung gegenüber Natur und Anarchie. Sie dominieren den Score in L’enfant sauvage.

Der Junge hechelt wie ein Hund, während er nach dem Apfel greift, der vor ihm im Spiegel erscheint. Die Musik setzt ein, sobald er das Prinzip des Spiegels verstanden und den Apfel ergriffen hat.

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(Bild: L'enfant sauvage)

L’enfant sauvage ist einer der schönsten, weil einfachsten Filme Truffauts: schwarzweiss und auf wenige Personen und Orte und eine geradlinige Handlung konzentriert: auf die Erziehung des Victor de l’Aveyron, des 1798 in Mittelfrankreich aufgegriffenen Findelkindes, eines französischen Kaspar Hauser. Truffaut selbst spielt den von den Idealen der Aufklärung überzeugten Arzt Dr. Itard, der die Erziehung des Kindes übernimmt, und wieder einmal spielt er eine Rolle nicht von ungefähr: er wäre, hat er einmal gestanden, auf jeden anderen, der diese Rolle gespielt hätte, eifersüchtig gewesen.

Ich will Ihnen etwas sagen, Bürger Itard: dieser Junge ist minderwertiger als alle Kinder, die hier sind. Er steht noch unter den Tieren. – Das ist nicht die Frage. Oder doch. Denn selbst ein Tier versucht man zu erziehen. – Glauben Sie, dass es möglich ist, ihn zu erziehen? – Ich weiss es nicht, ich weiss es nicht. Ich glaube nur, dass es sinnlos war, ihn aus dem Leben zu reissen, das er im Walde führte, um ihn hier einzusperren. Als Strafe dafür, dass er die Pariser enttäuscht hat. Denn das wirft man ihm doch im Grunde vor. – Ich will Ihnen eines sagen: meines Erachtens ist er ein Idiot.

«Etwas für mich sehr Erstaunliches über den Jungen hat jemand einmal so ausgedrückt: das ist nicht die Geschichte eines ausgesetzten Kindes, dessen sich ein Arzt pädagogisch annimmt, sondern das ist die Geschichte eines Filmregisseurs, der sein Tagebuch führt … Ich hätte zu dem, was ich schrieb, eine stärkere Beziehung gehabt als zu dem Kind. Sicher ist das übertrieben, und es hat mich sehr erstaunt, eine solche Ansicht zu hören – aber vielleicht ist etwas Wahres dran.»

In der Geschichte des Kinos wie in der Geschichte des Filmregisseurs Truffaut nimmt L’enfant sauvage eine besondere Rolle ein. Der Film ist nicht zufällig Jean-Pierre Léaud gewidmet, dem alter ego Antoine Doinel, dem Objekt der Erziehung. 1969 gedreht – und erst ein Jahr ist seit dem Mai 68 vergangen, und alles, was Pädagogik heisst und bisher war, steht zur Disposition –, ist L’enfant sauvage ein Plädoyer nicht nur für die Aufklärung, sondern auch eine Verteidigungsrede für die Erziehung. Truffaut mochte im Mai 68 durchaus dabei sein, als es galt, das Filmfestival von Cannes zum Abbruch zu zwingen – aber ein Konformist war er nie. Sein Ehrgeiz war immer pädagogisch, auch wenn er in dem Kinder- und Schülerfilm L’argent de poche von 1975 nicht selbst den idealistischen Lehrer spielt. Die Ideen und das Schuldbewusstsein der Bürgersöhne sind diesem Findelkind aus dem Subproletariat immer sehr fremd geblieben.

Ich habe nie an Gruppen und Vereinigungen geglaubt. In dieser Beziehung bin ich ausgesprochen individualistisch. Und skeptisch. Ich finde, wenn mehr als ein Dutzend Leute sich zusammentun, um etwas zu unternehmen, dann werden sie meist sehr kindisch … Sie verfassen Petitionen, protestieren, wenn ein Film verboten wird undsoweiter. Aber es ist ihnen beispielsweise immer noch nicht gelungen, durchzusetzen, dass die Filme in den Kinos besser vorgeführt werden.

Kapitel Zwei.
Jules und Jim und Adèle.
Oder: Die Männer und die Frauen.

… Im Jahr 1912 war Jules nach Paris gekommen. Er hatte von Jim, den er nur flüchtig kannte, eine Karte für den Künstlerball bekommen. Gemeinsam suchte man nach einem passenden Kostüm. In diesen Minuten, während sich Jules für das bescheidene Gewand eines Sklaven entschied, erwachte Jims Freundschaft zu ihm.

1912 und doch fin de siècle, die Stimmung ist wie bei Maupassant, und die Luft schmeckt nach Debussy und Cézanne. Bilder wie von Max Ophüls und von Jean Renoir meint man zu sehen, aus Le plaisir oder aus Une partie de campagne, sonnendurchflutet und mit jenen hellen Schatten, die nichts als Erquickung und Vergnügen, Freude und Lust versprechen. Das Leben ist so leicht wie die Kamera, und die Kamera so leicht und beschwingt wie die Röcke der Frauen, denen Jules und Jim begegnen. Der deutsche und der französische Dichter, sie leben ihre Vitalität und ihre ganze Jugend aus, und sie gehen so verschwenderisch damit um, als hätten sie noch ein Dutzend Leben in Reserve. Bis sie Catherine treffen, die Frau mit dem rätselhaften Lächeln einer ferner Statue, die Frau, die ihnen mindestens ein Leben vorauszuhaben scheint und die sie beide, die Dichter, nie ganz begreifen werden. Nur der Anfang, ein Urlaub zu dritt am Meer, ist strahlende, schattenlose Heiterkeit.

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(Bild: Jules et Jim)

Glauben Sie, es wäre richtig, wenn ich sie heirate? Antworten Sie mir ganz offen. – Ist Catherine dazu geschaffen, Mann und Kinder zu haben? Ich fürchte, sie ist ein Typ, der nie ganz glücklich sein kann. Sie ist ein Wesen, das allen gehört, aber nie einem Mann allein.

Sagt Jim. Und Jules heiratet Catherine und nimmt sie mit nach Deutschland, und erst vier oder fünf Jahre später – dazwischen liegt der Erste Weltkrieg – sehen sich die Freunde wieder. Und alles ist anders geworden. Jules schreibt ein Buch über die Libellen, und mit Jim, der sie in ihrem Haus im Schwarzwald besucht, spielt Jules wieder Domino. Die beiden sehen von ihrem Spiel nicht auf: Catherine ist für sie nicht vorhanden.

Bevor ich euch kannte, war ich ein ernster Mensch. Da hab ich so ein Gesicht gemacht. (Lachen) Aber das ist für immer vorbei. Von jetzt an wird gelächelt.

Die letzten zwanzig Sekunden der Szene sind, während das Bild bei den mimischen Etüden wie bei einer Fotoserie von Star-Porträts kurz anzuhalten scheint, ein Bravourstück der Jeanne Moreau. Sie dominiert Oskar Werner und Henri Serre, wie Catherine Jules und Jim dominiert, und sie ist so grandios, dass ein zeitgenössischer Kritiker sogar meinte, sie mache aus einem «film d’auteur» einen «film de comédienne».

Truffaut war auf den Roman «Jules & Jim» von Henri-Pierre Roché eher zufällig gestossen. Er hatte ihn in einer Filmkritik erwähnt, woraus sich ein persönlicher Kontakt mit dem Autor ergab.

«Diesem Roman gehörte meine ganz besondere Liebe, ich konnte ihn wirklich auswendig, und manchmal machte ich etwas Bestimmtes auf Grund einer einzigen Zeile im Text … Eigentlich war ich viel zu jung, war noch nicht einmal dreissig. Der Roman aber war von einem über Siebzigjährigen geschrieben worden. Das hat mich wahrscheinlich auch so an dem Buch gereizt, dieses ungeheure Zurückgehen in der Zeit. Jemand, der nach fünfzig Jahren eine Geschichte erzählt. Ich habe sicherlich wie ein sehr junger Mann gehandelt, der den Film eines sehr alten Mannes drehen will. Denn das konnte ich natürlich gar nicht. Ich glaube beispielsweise, dass der Film sehr viel puritanischer ist als das Buch … Ich fand ihn viel zu romantisch und war auch durch seinen Erfolg ziemlich betroffen. Ich hatte den Eindruck, nicht die Wahrheit über die Liebe gesagt zu haben …»

Er wird sie bald und immer wieder suchen und finden, die Gelegenheit, die Wahrheit, seine Wahrheit über die Liebe zu sagen: in La peau douce zum Beispiel, dem freudlosen Ehebruchsdrama, in dem es fast wie eine Erlösung wirkt, wenn die Ehefrau ihren treulosen Mann mitten in einem bürgerlichen Restaurant mit der Schrotflinte erschiesst. Oder wenn Jeanne Moreau – La mariée était en noir – die Mörder ihres Geliebten tötet, die vermeintlichen Mörder, Mann für Mann. Oder wenn Bernadette Lafont, die Protagonistin seines ersten Films überhaupt – des Kurzfilms Les mistons – Camille Bliss (Une belle fille comme moi) spielt: eine Mörderin, die den Mann, der sich in sie verliebt hat, so unschuldig er auch sein mag, ans Messer liefert und selbst das Leben geniesst. Oder in den Doinel-Filmen Baisers volés sowie Domicile conjugal. Oder in dem Liebesfilmkrimi La sirène du Mississippi. Oder in der Männer-Tragikomödie L’homme qui aimait les femmes. Oder in dem an Jules et Jim, nur mit umgekehrten Geschlechtsvorzeichen, erinnernden Film Les deux anglaises et le continent. Oder in seinen drei letzten Filmen: Le dernier métro, La femme d’à côté, Vivement dimanche!

Denn welches scheinbare Hauptthema auch immer angeschlagen wird, die Überlebensstrategie eines Theaters während der Okkupation etwa oder Widersprüche und heimliche Komplizenschaft von Literatur und Liebe, den Liebesersatz durchs Schreiben, den Schreibentzug durch die Liebe: Truffaut scheint es immer nur um das Eine zu gehen:

«Am liebsten hätte ich Menschen gezeigt, die an der Liebe sterben.»

Schon Catherine, Freundin und Frau von Jules und Jim, scheint an der Liebe zu sterben. Oder stirbt sie nur am Überdruss ihrer Freiheit und an einem Leben, in dem sie zwar Männer satt gehabt hat, aber nie die Liebe erfahren?

Wer hat denn geschrieben: die Frau ist erdhaft, also niedrig? – Ja, im Sinne der Kunst. Das war Baudelaire. Aber er meinte damit ganz bestimmte Frauen. – Nein, er spricht von der Frau im allgemeinen. Und was er über das junge Mädchen sagt, das ist wunderbar: Schreckgespenst, Bestie, Zerstörerin der Kunst, alberne, geschwätzige Schlampe, grösste Dummheit verbunden mit grösster Verworfenheit. Eine Sekunde, ich bin noch nicht fertig. Das ist wirklich einmalig: Ich habe es noch nie verstehen können, dass man Frauen erlaubt, in die Kirche zu gehen. Denn worüber sollten sie sich wohl mit Gott unterhalten? – Ihr seid beide Idioten. – Wieso denn, ich hab den Mund überhaupt nicht aufgemacht. Und ausserdem billige ich nie, was Jules um zwei Uhr morgens sagt. – Gut, dann protestieren Sie. – Ich protestiere.

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(Bild: L'histoire d'Adèle H.)

Immer wieder ist die Kamera auf die ironisch lächelnde Catherine gegangen. Jetzt zeigt sie, wie die Frau in die Seine springt. – Auch wenn sie später ihr Auto und mit ihrem Auto sich selbst und Jim, den sie zum Mitkommen aufgefordert hat, in den Fluss und in den Tod steuert – ein Ende, das im trotzig protestierenden Sprung in die Seine schon angekündigt wird –, auch dann bleibt die Liebe für Catherine ein ständiger Wettbewerb, eine Feldschlacht. In der will sie das Geschehen diktieren, will sie das Leben, die Wirklichkeit dominieren. Und sie hat dazu jedes Recht angesichts der Kürze jedes Sommers und angesichts Männer. Denn die Liebe der Männer ist immer ungewiss und unentschieden. Unbedingt und bedingungslos lieben nur Frauen.

Albert, mein Liebster. Unsere Trennung hat mich zerbrochen. Ich habe seit deiner Abreise jeden Tag an dich denken müssen, und ich weiss, dass auch du gelitten hast. Mich hat keiner deiner Briefe, die du mir geschickt hast, erreicht, und ich fürchte, dass auch die meinen niemals in deine Hände gekommen sind. Aber ich bin gegenwärtig hier, Albert, ich bin auf derselben Seite des Ozeans wie du. Alles wird wieder sein wie früher. Ich weiss, dass du mich bald mit deinen Armen umschliessen wirst. Ich bin in derselben Stadt wie du, Albert. Ich erwarte dich. Ich liebe dich. Deine Adèle.

Adèle H., die jüngere Tochter Victor Hugos, ist 1863 in Halifax gelandet, der Hauptstadt von Neuschottland, und sie reist hinter Albert Pinson, französisch ausgesprochen, her, oder richtiger Albert Pinson, englisch ausgesprochen, dem Leutnant, den sie rücksichtslos und wider alle Vernunft – aber was heisst schon Vernunft in der Liebe –, den sie hemmungslos und bis in den Wahnsinn liebt.

Lieben Sie mich nicht mehr, Albert? Ist es denn so, dass Sie mich nicht mehr lieben? – Ich habe Sie geliebt, Adèle. – Aber sagen Sie mir doch, dass ich hoffen kann. Dass Sie mich wieder lieben werden. Können Sie mir das nicht sagen? Sie antworten nicht. Dann, dann bitte ich Sie nur um eins: wenn Sie mich schon nicht mehr lieben, dann lassen Sie mich Sie lieben. O ja, lassen Sie mich Sie lieben.

Sehr schnell und mit wenigen knappen Skizzen und Beobachtungen macht L’histoire d’Adèle H. klar, dass hier kein Sieg, sondern nur eine Niederlage zu erringen ist. Aber was für eine Niederlage. Indem er dem erst spät aufgefundenen Tagebuch der Adèle Hugo folgt, erkennt der Film in ihr eine der grossen Liebenden der Weltgeschichte, eine Frau, die ihrer Liebe alles zu opfern bereit ist und sich selbst keine Erniedrigung erspart, weil auch die Erniedrigung, gerade sie, ein Triumph der Liebe ist. An der Adèle H., beängstigend intensiv dargestellt in ihrem Weg in den Wahnsinn durch Isabelle Adjani, kann Truffaut zeigen, wie jemand an der Liebe stirbt. Weil die Liebe so vollkommen Besitz von ihr ergreift, dass sie ihren Gegenstand schon nicht mehr braucht.

Ich bin nicht mehr eifersüchtig, ich bin nicht mehr stolz, ich habe den Stolz überwunden. Aber da ich nicht das Lächeln der Liebe haben kann, verdamme ich mich zu ihrer Grimasse. Jetzt will ich an meine Schwestern denken, die im Bordell leiden, an meine Schwestern, die in der Ehe leiden. Man muss ihnen die Freiheit geben und die Würde, damit hinter der Stirn der Gedanke und im Herzen die Liebe wohnt. Die Liebe ist meine Religion.

Immer mehr vollzieht sich das Leben der Adèle H., indem sie schreibt. Und auch ihre Liebe besteht bald nur noch aus Wörtern, fieberhaft notiert auf Massen an Papier, das der Händler kaum noch nachzuliefern in der Lage ist.

Die Möglichkeiten des Films, das Schreiben oder Geschriebenes oder Gedrucktes (oder das Lesen) zu vermitteln, sind begrenzt, so sehr auch Bild, Tonmischung und Montage die Kombination variieren mögen: das direkte Sprechen beim Schreiben oder Lesen, das Sprechen des Schreibenden oder Lesenden im Off, das Sprechen in die Kamera hinein. Der Katalog Truffauts war schon ausgereizt bei Les deux anglaises et le continent, an dessen Drehbuch Jean Gruault mitgeschrieben hat und der gedreht worden war, als Gruault den ersten Entwurf von L’histoire d’Adèle H. vorlegte. Die Verbindung zwischen den beiden Filmen ist eng, besonders was die Zeichen der Entkörperlichung betrifft. Wie Adèle eine Prostituierte zu Pinson, so schickt Muriel ihre Schwester Anne zu Claude, und ähnlich wie Adèle schwächt sich Muriel (ihre Augen: auch Adèle trägt gegen Ende eine Brille) durch das Schreiben vieler leidenschaftlicher Briefe und eines Tagebuchs, das sie verschliesst, wie die historische Adèle Hugo ihre Aufzeichnungen in eine Codeschrift verschlüsselte. So kann auch eine ikonographische Wiederholung nicht überraschen: wie Muriel schreibt Adèle vor dem Spiegel sitzend, und der Spiegel erscheint hier wie da nicht nur als Kommunikationshilfe für die Kamera, sondern als der letzte mögliche Mittler zwischen der Schreibenden und ihrer Körperlichkeit; er allein, so scheint es, verhindert, dass sie sich vollkommen in Wörter auflöst.

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(Bild: La sirène du Mississippi)

Auf der Insel Barbados, wohin Adèle dem Leutnant und seinem Regiment gefolgt ist, hört auch noch das Schreiben auf. Als sei auch das Schreiben noch zu viel an Stolz und Eigensinn und – eine Erfahrung, die viele Protagonisten Truffauts machen – nur eine Ersatzhandlung. Oder für die Liebe das, was Wintersport, Theater und Angeln für das Kino sind: nichts als Konkurrenz. Erst im Wahnsinn findet sie ihre Erfüllung.

«Für mich stellt die letzte Rolle von L’histoire d’Adèle H. ein Happy-End dar. Adèle begegnet dem Leutnant Pinson und erkennt ihn nicht wieder: sie ist also von einer Liebe geheilt, deren Last unerträglich geworden war. Ich nehme an, dass Adèles letzte vierzig Lebensjahre, die sie im Sanatorium von Saint-Mand verbrachte, die besten ihres Lebens waren, die angenehmsten.»

Kapitel Drei.
Die falschen Vögel von La Réunion.
Oder: «Ihre Lüge war wunderbar.»

Paris, junges Mädchen, romantisch, hübsch, abgeschlossene Ausbildung, sucht zwecks späterer Heirat …

Bekanntschaftsannoncen, suche/biete, Heiratsinserate, der Markt der einsamen Herzen, wilden Träume und bunten Illusionen, der Lügen und Hochstapeleien, der Gier und des Betrugs, der Glückspropaganda und Partnerschafts-Ideologie, aber auch der Tränen und Bitterkeit und Not –: das ist, als Ouvertüre, die Titelmelodie zu einem Film, der alle diese Versprechungen zugleich entlarvt und wundersam bestätigt, und an dessen Anfang ein Heiratsschwindel steht.

Auf dem Markt der einsamen Herzen, im Anzeigendschungel der Gefühle ist auch Louis Mahé auf die Suche gegangen. Er ist etwa Mitte Dreissig und lebt auf der zu Frankreich gehörenden Insel La Réunion, seitlich von Madagaskar im Indischen Ozean. Louis Mahé ist Zigarettenfabrikant und offenbar vermögend, und er hat für seine Fabrik und sein Vermögen bisher so geschuftet, dass er Mitte Dreissig werden musste, um in seinem Leben etwas zu vermissen. Jetzt wartet er am Kai von Saint-Denis, der Passagierdampfer «Mississippi» ist eingelaufen, auf die Anzeigenbraut und Briefpartnerin, die er heiraten möchte.

Sie erkennen mich wohl nicht, Monsieur Mahé. – Pardon, meinen Sie vielleicht mich? – Ich bin Julie, ich bin Julie Roussel. – Julie Roussel? Sie sind Julie Roussel? – Weil ich anders aussehe als auf dem Foto? – Ja, eben. – Das Bild in dem Brief war nicht von mir. Es war das Bild einer Bekannten. Es fällt eben schwer, sich jemandem in solchen Briefen anzuvertrauen. Ihre Briefe gefielen mir – aber ganz am Anfang hatte ich natürlich doch einige Bedenken. Das war der Grund. Später, als Sie mir dann vorschlugen, naja, als Sie mir die Heirat vorschlugen, da wollte ich Ihnen schon mein eigenes Foto schicken. Aber meine Schwester meinte: wenn Monsieur Mahé dich sieht, wird er dir verzeihen. – Ihre Schwester hatte völlig recht. – Jetzt sind Sie wohl enttäuscht. – Sehe ich etwa aus, als ob ich enttäuscht wäre? Wissen Sie, ich dachte, der erste Schritt wäre schon gemacht. Jetzt muss ich wieder von vorn anfangen. Jetzt muss ich mich erst an Sie gewöhnen, muss Sie erst kennenlernen. – Werden Sie mir meine Lüge verzeihen können? – Ihre Lüge war wunderbar.

Und er ahnt nicht, welches Wunder der Lüge ihm noch bevorsteht. Der Film mit dem rätselhaften und anspielungsreichen Titel La sirène du Mississippi wird den deutschen Titel Das Geheimnis der falschen Braut haben – womit schon fast alles verdorben ist. Auch wenn der Zuschauer schneller als der biedere Louis erkennt, dass die Braut eine Schwindlerin ist –: das Wunder der Lüge kann sich ihm nicht mehr entfalten wie eine verführerische, gefährliche, faszinierende Orchidee.

So aber erlebt Louis Mahé die Sirene: als das Abenteuer der Liebe und als Abenteuer des Lebens. Als sie ihn fragt, ob er enttäuscht sei, hat die Kamera nicht nur dem Zuschauer, sondern, so scheint es absurderweise, auch ihm, Louis Mahé, die schlanken, von einem federleichten Rock umspielten Beine der Frau gezeigt, von der Mahé bisher allenfalls das Gesicht zu kennen meinte. Das Foto war falsch, aber die Beine sind echt.

Wie also soll Louis ahnen, dass die ganze Braut falsch ist, die Liebe ein Schwindel und die Heirat ein Betrugsmanöver und Mittel zum Zweck, das heisst zu seinem Geld. Was kann falsch sein an einer Frau, die man im Bett umarmt? Und man könnte auch fragen: was kann falsch sein am Kino – solange man ihm glauben möchte. Solange man seine Lüge akzeptiert als den Zauber und die Magie, die von den Filmen ausgehen. Solange man auch dem Kino sagen möchte: Ihre Lüge war wunderbar.

«Wir haben da ziemlich viel mogeln müssen, denn die Insel hat ihr koloniales Gepräge ziemlich verloren. Wir haben die Orte genau auswählen müssen, um die hergebrachte Vorstellung von einer Kolonie zeigen zu können, eine Vorstellung von Wildnis und Exotik. Die Vögel sind eine Aufnahme aus Vietnam. Das erlaubte mir zu sagen: hört mal, auch in diesem Film ist Vietnam gegenwärtig. Das Neue für mich war, dass ich es zum erstenmal nur mit einem Paar zu tun hatte, nur mit dem Mann und der Frau und sonst nichts. Und was wahrscheinlich für den Reinfall bei der Kritik wie beim Publikum ausschlaggebend gewesen ist, war die Absicht, die Geschichte eines verkehrten Liebesverhältnisses zu zeigen: das Mädchen sollte der Mann und der Mann das Mädchen sein. Sie war in diesem Fall der üble Bursche, war ein Verbrecher. Und er benimmt sich wie eine Jungfrau. Die Leute waren natürlich entsetzt, Jean-Paul Belmondo in der Rolle eines schwachen Mannes zu sehen. Und umgekehrt kennen die Leute Catherine Deneuve als Prinzessin oder als hübsches junges Mädchen und waren schockiert.»

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(Bild: L'homme qui aimait les femmes)

Nicht nur falsche Vögel auf La Réunion, sondern auch die falschen Darsteller für die falschen Rollen. Es ist soviel Schwindel und Lüge in diesem Film, es ist soviel verkehrt, dass die Summe all dieser Tricks und Manipulationen nur wieder richtig werden kann und so echt wie die Beine der falschen Braut. Das nämlich ist das Wunder des Kinos, dass es mit der Lüge die Wahrheit sagt. Dass man ihm die Geschichte glauben möchte, in der Louis Mahé, der Schwache, aus Liebe nicht nur zum Mörder wird, sondern auch zum bereitwilligen Opfer, als ihn Marion Bergamo, wie die falsche Julie Roussel richtig heisst, mit Rattengift umbringen will. Ausgerechnet Belmondo, der Held und Kerl und Überflieger, wird zur männ­lichen Adèle H., auch für ihn wird die Liebe zur Religion. Aber dann geschieht es, dass die Mörderin angesichts der Grösse dieser Liebe zusammenbricht. Und anders als der historisch verbürgten Adèle H. widerfährt der fiktiven Gestalt, diesem Louis-Adèle Mahé-Hugo, das Wunder der Liebe, das die Lüge des Kinos bis an die absolute Schmerzgrenze des Melodrams zur Wahrheit der Gefühle macht.

Ich liebe dich doch, ich liebe dich. Vielleicht glaubst du mir nicht, aber es gibt viele Dinge, die unglaublich und doch wahr sind. Du darfst nicht verzweifeln. Wir wollen jetzt weit weg von hier, und dann bleiben wir immer zusammen. Wenn du mich noch willst. – Aber ich will ja nur dich, dich allein, so, wie du bist. Wie du bist. Komm, wein doch nicht. Ich will doch dein Glück, nicht deine Tränen. – Jetzt gehör ich nur dir, Louis. Es tut weh, Louis, es tut weh. Ist das die Liebe? Tut Liebe so weh? – Ja, es tut weh.

Kapitel Vier.
Die Briefe, die Bücher, das Kino.
Oder: Die Liebe und der Tod.

Bertrand Morane in seiner Wohnung in Montpellier. Er wühlt in einer Schublade mit Fotos und Briefen. Dann holt er sich seine alte Remington vom Schrank. Der Mann, der die Frauen liebte, ist vor wenigen Tagen gestorben. Jetzt wird seine Geschichte in einer grossen Rückblende erzählt, und die Erzählung folgt dem Buch, das Morane geschrieben hat und das gerade rechtzeitig zu seiner Beerdigung erschienen ist.

So ist das also. Die schöne Büstenhalterverkäuferin kann nur mit jungen Männern schlafen, die noch eine süsse und zarte Haut haben. Natürlich ist das nicht mein erster Misserfolg, aber einer, den ich nicht erwartet hatte. Ich wusste wohl, dass es eines Tages passieren würde, aber mit einem jungen Mädchen. Und nun lässt mich eine Frau meines Alters abblitzen. Deshalb will ich das Wagnis auf mich nehmen und dieses Buch schreiben. Vielleicht auch weil ich angesichts der mit Fotos vollgestopften Schublade Angst habe zu vergessen. Es gibt schon so viele Namen von Frauen, die ich vergessen habe. Wenn ich auch die Ereignisse noch gut in Erinnerung habe, die mit all den Gesichtern verbunden sind. Viele Jahre habe ich meine Notizbücher aufbewahrt, sie jedoch weggeworfen, als ich mich entschloss, Paris zu verlassen. Ich will versuchen, so weit wie möglich in die Vergangenheit vorzudringen, bis zur ersten Frau, der, die man nie vergisst.

L’homme qui aimait les femmes, im Herbst und Winter 1976, als sei er wirklich ein Dokumentarfilm, an Ort und Stelle in Montpellier gedreht, ist ein Echo auf L’histoire d’Adèle H., die nur anderthalb Jahre vorher entstanden war. Truffaut folgt seinem liebsten Rhythmus: auf einen aufwendigen Film einen kleineren folgen zu lassen, sich bei einer Komödie von einer Tragödie zu erholen.

Ich gebe mir Mühe, ganz unterschiedliche Filme zu machen. Ich habe Angst, immer das gleiche zu erzählen. Aber ich weiss nur zu gut, dass im Grunde immer wieder das gleiche herauskommt. Denn wahrscheinlich arbeitet man in seinem ganzen Leben doch nur mit sehr wenigen Elementen, sehr wenigen Einfällen.

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(Bild: Le dernier métro)

Es wäre zu einfach, wollte man behaupten, dass tugendhafte Frauen die sind, die schnell gehen. Ich erinnere mich an eine Pariser Hure, die mit schnellen Schritten die Strasse durchmass. Ihre List bestand darin, die Gedanken ihrer Kunden mit Zweifeln zu füllen. Und indem man dieser Schnellgeherin folgte, fragte man sich: ist sie nun eine Hure oder nicht? Und dann sprach man sie mit doppelter Hoffnung an, entweder an eine Bürgerstochter zu geraten oder es mit einer Professionellen zu tun zu haben, die schlicht Ort und Preis nennen würde. Auch meine Mutter ging sehr schnell auf der Strasse, mit ihrem schwarzen Plissérock und feinem, leicht verkniffenem Gesichtsausdruck – wahrscheinlich um die Männer zu entmutigen. Alles in ihrem Gebaren mir gegenüber schien zu sagen: ich hätte mir besser ein Bein gebrochen an dem Tag, als ich diesen Dummkopf ans Licht der Welt setzte.

Die Bewegung schnell gehender Frauen hat man in der Tat schon gesehen und wird sie wiedersehen bei Truffaut. Im Kurzfilm Les mistons war es Bernadette Lafont, in Les quatre cents coups die Mutter; in Le dernier métro wird es wieder einmal Catherine Deneuve sein und in Vivement dimanche! Fanny Ardant. Mit der Bewegung stellen sich auch die Bilder ein, die Blicke vor allem auf die Beine der Frauen, von denen nicht nur Bertrand Morane geradezu besessen ist. Schon Antoine Doinel konnte die Augen nicht von den Beinen der Mutter wenden, und vierundzwanzig Jahre später wird Julien Vercel, der Immobilienhändler – welch eine subtile Ironie – unbeweglich im Keller seines Büros hocken und durch das Oberlicht auf die Beine der vorübergehenden Frauen starren. Vom ersten bis zum letzten Film: die gleiche Faszination.

Ein vollkommenes Bein ist etwas Schönes. Aber ich bin auch kein Gegner von kräftigen Fussgelenken. Ich kann sogar sagen: sie wirken anziehend auf mich. Denn sie versprechen die harmonische Verlängerung von den Beinen an aufwärts. Die Beine … Die Beine der Frauen … Die Beine der Frauen sind die Zirkel … hm … Die Beine der Frauen sind die Zirkel, welche den Erdball in allen Himmelsrichtungen ausmessen und ihm sein Gleichgewicht und seine Harmonie geben.

Der Anfang des Films ist sein Ende: auf dem Friedhof St. Lazare wird der Mann, der die Frauen liebte, begraben, und zu seiner Beerdigung sind – ausser der Kamera – nur Frauen erschienen. Mit einer weiteren Ausnahme: vor dem Eingang zum Friedhof sehen wir kurz einen neugierigen Mann. Es ist François Truffaut in seiner braunen Lederjacke. Es ist die Jacke, die er als Regisseur Ferrand in La nuit américaine getragen hat und die jetzt, einen ganzen Film lang, der Schauspieler Charles Denner tragen darf –: der Mann, der die Frauen liebte.

Die Zeichen sind deutlich gesetzt, die der Identifikation ebenso wie die der männlichen Selbstkritik. Die Liebe oder Libido, wenn sie sich nur am Teil, am Körperteil orientiert oder am Geräusch sich reibender Strümpfe entzündet, sie ist schon zur Sache geworden und die Liebe nicht mehr. Und was ist aus ihr geworden, wenn sie sich aufs Schreiben verlegt? Wenn Papier und Feder, Schreibmaschine und Bücher, Briefe und Tagebuchnotizen an ihre Stelle treten? Das macht die heimliche Verwandtschaft von Adèle H. und Bertrand Morane, auch die mit dem jungen Schriftsteller Claude Roc aus, der sich zwischen Les deux anglaises für seinen Roman entscheidet. Das Syndrom heisst amour fou, und die Erfahrung sagt, dass mit der amour fou nicht zu leben ist – es sei denn im Kino der falschen Vögel von La Réunion.

Zeit seines Lebens von allem Geschriebenen und von Büchern bis zur Besessenheit fasziniert, hat Truffaut wie kein anderer Filmemacher den prinzipiell ganz unfilmischen Akt des Schreibens in spannende Sequenzen umgesetzt. Seine Syntax scheint, was das angeht, unerschöpflich gewesen zu sein, und Ideen sind ihm nie ausgegangen.

«Ich glaube, dass Bücher und Filme gut zusammenpassen. Dass sie etwas Gemeinsames ausdrücken. Wir haben uns häufig vorgestellt, einen Film zu machen, der sich einfach darauf beschränkt, ein Buch Seite für Seite abzufilmen.»

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(Bild: Fahrenheit 451)

Ein Buch-Film, eine Buch-Verfilmung in zweifachem Sinn ist auch Fahrenheit 451. Die Vorlage stammt von Ray Bradbury und ist die negative, die schwarze Utopie einer rein optisch-akustischen und buchlosen Zeit. Zeitschriften und Broschüren, Bücher und Lexika, alles Gedruckte wird verbrannt in dieser Welt. Aber aus der Zerstörung wächst das Rettende auch: die Opposition ist in die Wälder gegangen, und dort lernen die Widerständler und Rebellen die Bücher auswendig, bevor sie verbrannt werden: Menschen verwandeln sich in Bücher, und es gibt nichts, was das Leben lebenswerter machen könnte, wie Adèle sich in Wörter auflöste und Charles Denner in sein Tagebuch.

Und noch einmal bekennt sich Truffaut zur Verwandlung des Lebens in Schrift und Texte und Bücher und der Bücher ins Kino. In seinem unbekanntesten Film La chambre verte spielt er selbst Julien Davenne, den Redakteur einer Kulturzeitschrift, einen Spezialisten für Nachrufe, der in diesem Jahr schon einunddreissig Nekrologe geschrieben hat. In seiner Wohnung unterhält er ein Gedächtniszimmer für seine früh verstorbene Frau Julie, der er später eine ganze Kapelle widmet. Und vor diesem Altar seiner Besessenheit, einer Leidenschaft, die keinen lebendigen Kontakt zu einem lebenden Menschen mehr zulässt, in der vom Licht von Hunderten von Kerzen durchfluteten Kapelle wird Davenne, erschöpft und überanstrengt, tot zusammenbrechen. Es kann einen schöneren Tod nicht geben.

In La nuit américaine wollte Alphonse, seine Freundin hatte ihn soeben verlassen, aus dem Film aussteigen und nicht mehr mitspielen bei «Je vous présente Pamela». Da geht Ferrand zu ihm, und was er Alphonse zu sagen hat, sagt, unüberhörbar, auch François Truffaut.

Ecoute, Alphonse, viens. Tu veux rentrer dans ta chambre … Du liest deine Rolle im Drehbuch, du arbeitest ein bisschen und dann versuch, genügend Schlaf zu kriegen. Morgen gibt’s Arbeit, und die Arbeit ist das Wichtigste. Hör auf zu spinnen, Alphonse. Du bist ein guter Schauspieler. Die Arbeit läuft gut. Ich weiss, du hast privaten Kummer. Aber jeder von uns hat mal ein Tief in seinem Privatleben. Im Film ist alles harmonischer als im Leben. Es gibt keine plötzlichen Hindernisse, keinen Leerlauf. Die Filme rollen wie ein Zug, wie ein Zug in der Nacht. Du weisst genau: Leute wie du und ich, wir können nur bei der Arbeit glücklich sein, bei der Arbeit fürs Kino.

Sein letzter Film, eine Kriminalkomödie aus dem Bürgertum, eine Parodie fast auf die Filme Claude Chabrols, sein letzter Film hiess in Frankreich, unübersetzbar, Vivement dimanche! Man gab ihm den deutschen Titel: Auf Liebe und Tod – und hätte einen treffenderen Nachruf auf François Truffaut nicht schreiben können.

(Titelbild: La nuit américaine, Letztes Bild: Alexandra Stewart in La nuit américaine)

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2001 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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