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Philine Janssens Portait
© Philine Janssens beim Intimitäts-Workshop in Clermont-Ferrand. Bild: Philip Artelt

Intimität lernen in drei Stunden

In Frankreich geradezu gewagt: ein Workshop zur Intimitätskoordination beim Kurzfilmfestival in Clermont-Ferrand. Unser Autor war mit dabei, als es darum ging, seine Grenzen kennenzulernen.

Text: Philip Artelt / 02. Feb. 2023

«Wie war euer erstes Mal?» Philine Janssens stellt die Frage in die kleine Runde.

Rund ein Dutzend Frauen und Männer sitzt auf Drehhockern in einem lichtdurchfluteten Dachgeschoss am Kurzfilmfestival in Clermont-Ferrand und denkt über diese Frage nach. Über ihre Gesichter huscht ein Lächeln, manche pressen die Lippen zusammen – Janssens sitzt ihnen gegenüber und geniesst die Schönheit des Augenblicks.

Janssens ist Tänzerin, Choreographin und seit ein paar Jahren Intimitätskoordinatorin an Filmsets. Ihre Art: direkt, verbindlich, fröhlich. Die Teilnehmenden sind Filmemacher:innen aus Frankreich und aller Welt, die meisten von ihnen sehr jung. Auch ein paar Schauspieler:innen sind dabei.

Einige von ihnen teilen ihre Erlebnisse. Sie erinnern sich an Zärtlichkeit, den Geruch von Schweiss, die Eltern im Nachbarzimmer, an den Stolz, durch diesen Akt zum «vollständigen Menschen» zu werden, aber auch an moralische Zweifel.

Philine Janssens geht es weniger um die Geschichten. Sie fragt, warum die Teilnehmer:innen des Workshops ihre Erlebnisse geteilt haben – oder warum nicht. «Du hast eine gute Atmosphäre geschaffen», sagt eine ältere Schauspielerin.

Ein simples Experiment, das zeigt, wie wichtig der Kontext ist, wenn es ums Intime geht, darum, sich zu entblössen, aber sich dennoch nicht nackt und hilflos zu fühlen. Die Grenzen dafür sind bei jedem Menschen anders.

Vertrauen schaffen

Sexszenen können Schauspieler:innen traumatisieren, selbst Küssen ist für manche Vollprofis ein Problem, aber auch für die Regisseur:innen, die mit den Zweifeln und Sorgen ihrer Crew arbeiten müssen. Und sie sind es, die diese Atmosphäre schaffen können, dieses Vertrauen, das die Seminarbesucher:innen jetzt gerade spüren.

Janssens erzählt von ihrer Arbeit, von Anwälten und abgehobenen Regisseuren, davon, wie sie schon vor der Intimität am Set auf das Skript Einfluss nimmt, nicht, um Sexszenen zu verhindern, sondern um ihnen einen Sinn zu geben. Es geht viel um Glaubwürdigkeit, die den Schauspieler:innen hilft, gespielte Intimität zu akzeptieren.

Nächstes Experiment: Ein Teilnehmer stellt sich Janssens gegenüber. Sie fasst ihren Körper an und sagt ihm, wo es okay ist, sie am Filmset zu berühren – und wo nicht. Arme, Beine, Kopf, Torso, all das tastet sie ab. Und der junge Mann spiegelt sie, wiederholt ihre Berührungen und verinnerlicht die Grenzen seiner Filmpartnerin.

Es wirkt so simpel, aber dass es wirklich funktioniert, dass das «Körpergedächtnis» aktiviert wird, erfahre ich selbst in der letzten Übung. Die Filmemacher:innen erarbeiten eine kurze erotische Szene, den Moment, in dem eine junge Frau einen Orgasmus mit einer Prostituierten hat. Es gibt einen Regisseur, eine Teilnehmerin übernimmt die Rolle der Intimitätskoordinatorin. In die Rollen der beiden Schauspielerinnen schlüpfen ein junger Regisseur und ich, der Journalist.

Können statt Glück

Der Regisseur entwickelt die Szene in seinen Gedanken, die Intimitätskoordinatorin schaltet sich als Vermittlerin zu uns Schauspielern dazu. Mein Partner zeigt mir seine Tabuzonen – ich wiederhole sie wie in der vorangegangenen Übung, und selbst einen Tag danach kann ich dieses haptische Erlebnis abrufen. Ich spüre es noch immer.

In der Hektik hat die Intimitätskoordinatorin unserer Gruppe vergessen, nach meinen Bedürfnissen zu fragen. Meinen Körper würde man im Film nicht nackt sehen, aber dennoch fühle ich, dass ich mitreden möchte, dass auch ich mich unsicher fühle, allein durch den sexuellen Kontext der Szene. Für Philine Janssens ein wichtiges Detail, das zeigt, wie leicht die Bedürfnisse von Cast und Crew in der Hektik am Filmset untergehen.

Aus zwei Stunden Workshop werden am Ende drei, jede:r hat noch so viele Fragen. Da ist die slowakische Regisseurin Alica, die mit 19 ihren ersten Kurzfilm drehte und von einer Sexszene so überfordert war, dass sie nie mehr Intimität filmen wollte: «Sie hätten das in der Filmschule aufgreifen sollen», sagt sie heute. Da ist die ältere Schauspielerin Lou, die sich freut, dass sich hier so viele Regisseure für das Thema interessiert haben. Und da ist Fabian aus Mexiko, der ebenfalls eine Sexszene für seinen Kurzfilm inszeniert hat. Mit seinem Hauptdarsteller ist er heute gut befreundet. «Ich hatte sehr viel Glück», sagt er. Auf dieses Glück vertrauen will er in Zukunft aber nicht.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2023 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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