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Une Vie

Das Kino der Erzählungen von gefährdeter persönlicher Identität und Integrität ist vital: Stéphane Brizé steht da in einer Reihe mit Loach, Dardenne, Mungiu oder Farhadi.

Text: Martin Walder / 13. Juni 2017

Une vie – ein Leben, das einzige, das wir haben. Der Titel ist an Lakonie kaum zu überbieten mit Blick darauf, was Maupassant in seinem ersten gleichnamigen Roman von 1883 erzählt: ein Frauenleben aus dem normannischen Landadel im frühen 19. Jahrhundert. Wir sind im Lande Flauberts, Maupassants Mentor, wo es an der Kanalküste rau, über dem Land leer, in den alten Gemäuern kalt, in den Herzen sehnsüchtig und in den Köpfen rigide ist. Im Alltag herrschen Geheimnis und amouröser Verrat hinter der betulichen Fassade, und zwar – auch das macht die Geschichte klar – als Muster über Generatio­nen hinweg. Da soll eine junge Frau sich treu bleiben können!

Jeanne Le Perthuis des Vauds, mit siebzehn der Klosterschule entronnen und von gut meinend kalkulierenden Eltern dem Leben in Gestalt eines kleinlichen und notorisch untreuen Julien de Lamare übergeben – sie kann es nicht so, wie sie es sich erträumt hat. Wohl lernt sie, aber der Preis ist hoch. Das ist zunächst tapfer und schön, dann von blindem Eigensinn und über die Jahre nur noch tragisch, wenn sich Jeanne an ihren einzig verbliebenen «Besitz», den Tunichtgut von Sohn, klammert. Mehr und mehr protokolliert das Buch, wie ein Leben sich ins Pathologische kanalisiert.

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Einen zeitlich sehr weit gespannten Bogen haben wir hier, in Buch und Film ganz unterschiedlich erzählt, aber gleichermassen genau in der Beobachtung einer angekündigten Kapitulation vor der Vielfalt und dem Potenzial dessen, was ein Leben ausmachen könnte. Der Verzicht auf ein Versprechen von Glück ist grausam, und der letzte Satz von Roman und Film straft Versöhnlichkeit Lügen, wenn Jeanne sich der Obhut ihres Enkelkinds hingeben wird und ihre Dienerin bemerkt: «La vie, voyez-vous, ça n’est jamais si bon ni si mauvais qu’on croit.» Judith Chemla ist als Jeanne von stupender Präsenz in jedem Lebensalter. Welcher Reichtum an Facetten, der sich in die Anmut ihres Gesichts berührend einschreibt!

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Stéphane Brizé kennt sich aus mit den Verrenkungen und der lenkenden Energie des Verrats, von denen er in seiner Adaption von Schnitzlers «Reigen» (Entre adultes) so stark erzählt hat, und mit dem drohenden Verrat an sich selbst, vor dem er seinen Lieblingsschauspieler Vincent Lindon in [art:la-loi-du-marche:La loi du marché] gerade noch hat entkommen lassen. Was macht er aus Maupassants Roman mit seiner deprimierenden Konklusion unter trübem Himmel, die nach der im Film bloss kurz signalisierten Sonnenbläue der Hochzeitsreise nach Korsika die Seelen bald besetzt hält?

Une vie ist ein Kostümfilm, der das Genre souverän unterläuft und weiss, dass man einer literarischen Vorlage nur gerecht wird, wenn man sie unzimperlich einer filmischen «Lesung» unterwirft. Was in diesem Fall heisst: Alles, was der Roman an Drama, auch an mörderischem, kinematografisch saftig offeriert, wird just nicht gezeigt. Die geradezu westernhaft spektakuläre Szene, in der ein furioser Vicomte die Liebeslaube auf Rädern mit Gattin und Julien in den Abgrund befördert – der Film lässt sie sich kurzum «entgehen». Gezeigt werden die Nachbeben. Die können wohl vor der nächtlichen Brandung heftig sein, wenn die dunkle Gestalt von Jeanne sich in die Wellen zu stürzen versucht hat und Julien ihr nachgestürmt ist. Aber wo seine zweite Untreue sich anbahnt, lässt Brizé keine verstohlenen Blicke hin- und herschiessen, wie jede 08/15-Regie verfahren würde. Zu sehen ist unverfänglich heiteres Cricket zu viert im Garten, scheinbar ohne dramaturgische Stringenz. Danach in einem Schnitt der Schock, Flash-artig der beobachtete Ehegatte hinter Stauden, wie er Jeannes beste Freundin küsst. Und dann ihre nächtlichen Tränen ins Kissen.

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Zeit wird also nicht wie im Roman in ihrer linearen Entfaltung illustriert, sondern in schroffen Ellipsen rhythmisch komprimiert und dadurch erlebbar. Dabei ist die Erzählung durchsetzt von hellen Flashbacks in die anfängliche Harmonie eines Paars, dessen erotische Zuwendungen allerdings deutlich von Jeanne ausgehen. (Dies nach einer Hochzeitsnachtszene übrigens, die vom brutalen Close-up stets noch näher an zwei stumme Gesichter herangerückt war – eine Qual zuzuschauen.) Im Gegenzug wird Jeanne bald schon irritierend, weil kaum identifizierbar, als vor und zurück wippend gealterte Gestalt in Flashforwards eingeblendet. Ist der Zeitverlauf so filmisch doppelt gebrochen, erscheint er nur umso unerbittlicher ausgestellt.

Stilistisch fesselnd ist die Art, Nähe durch Distanz herzustellen, gerne mit grossen Brennweiten und privat gesprochenem Dialog, oft im Off. Die Handkamera ist durchwegs in quasidokumentarischer Beobachtungsposition, doch sucht sie nicht alert die Aktion und das Wort, sondern konzentriert sich auf eine Situation, auf eine Reaktion, verharrt etwa zu Beginn allein auf Jeannes Gesicht, wenn das Arrangement ihrer Hochzeit durch die Eltern verhandelt wird. Wie die junge Frau da in einem bestimmten Moment nur noch die Augen niedergeschlagen verharrt, kommt dem Paradox eines stummen Schreis gleich, den ihr Une vie zugleich so schrecklich verweigert.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2017 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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