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Nos batailles

Politische Aktionen haben konkrete Voraussetzungen im Sozialen. Und manchmal ist es nötig, erst einmal Abstand zu gewinnen, um später umso entschiedener handeln zu können.

Text: Philipp Stadelmaier / 30. Apr. 2019

Wer über die emotionale Kraft und den politischen Elan des zweiten Spielfilms des belgisch-französischen Regisseurs Guillaume Senez nachdenkt, wird möglicherweise zunächst an einen anderen Film denken, der eine ähnliche Geschichte erzählt: Freiheit von Jan Speckenbach, der 2017 in Locarno lief und in dem Johanna Wokalek eine Frau spielt, die eines Tages ohne Vorankündigung und offensichtlichen Grund ihre wohlsituierte Familie in Berlin verlässt und fortan alleine und unter anderem Namen rastlos durch Europa streift. Getrieben von einem rätselhaft bleibenden Motiv oder vielleicht einfach vom Wunsch, alles Rätsellose ihrer bürgerlichen Existenz hinter sich zu lassen; auf der Suche nach der ominösen Freiheit, die der Titel verspricht. Zurück in Berlin bleiben Vater und Kinder, die mit ihrem Leben weitermachen (müssen), begleitet von der beklemmenden Frage: Wie konnte sie uns das antun?

Auch der Film mit dem kämpferischen Titel Nos batailles erzählt davon, wie eine Frau ihre Familie verlässt, aber auch von etwas, was über ihn hinausgeht: von der Entstehung einer sozialen Bewegung in der Wirklichkeit. Der Film hatte seine Premiere letztes Jahr im Mai auf der Semaine de la critique in Cannes – einige Monate später startete in Frankreich die Gelbwestenbewegung.

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Nos batailles spielt im französischen Arbeitermilieu und fernab der Hauptstadt. Die Leute kommen hier gerade so – oder schon nicht mehr – über die Runden. Romain Duris spielt Olivier, einen Vorarbeiter im Lager eines gigantischen, offenbar Amazon nachempfundenen Versandunternehmens; die Arbeitsbedingungen sind hier jedenfalls ähnlich schlecht wie beim Internetgiganten. Die Chefin kündigt anfangs einem älteren, nicht mehr «effizient» arbeitenden Mitarbeiter, der sich daraufhin, mangels Perspektiven bei der Jobsuche in seinem Alter, umbringt. Vincent Lindon hatte 2015 in La loi du marché von Stéphane Brizé in der Rolle eines arbeitssuchenden Fünfzigjährigen die Demütigungen und Absurditäten vorgeführt, die ihn erwartet hätten.

Es ist Winter, und die Firmenleitung spart bei der Heizung in der Lagerhalle, lässt die Mitarbeiter aber unbezahlte Überstunden machen. Die Herablassung, die Kälte, die Repression, mit der die Chefs den Angestellten begegnen, erzählt viel über den Umgang mit den unteren Klassen im «Macronismus». Währenddessen reicht das Geld hinten und vorne nicht. Oliviers Frau Laura arbeitet in einem Kleiderladen, in dem sich eine Kundin ein (ohnehin verbilligtes) Kleid kaufen will, aber die Bankkarte funktioniert nicht: Schon am 12. des Monats ist das Konto leer. Die Frau bricht in Tränen aus. Die kleinsten Freuden sind unbezahlbar geworden. Solche Geschichten sind real. Sie haben in Frankreich Millionen von Menschen mobilisiert.

An diesem Abend bringt Laura ihre beiden Kinder ins Bett, am nächsten Morgen macht sie für Olivier Kaffee und gibt ihm einen Abschiedskuss. Dann verschwindet sie. Noch mehr als Speckenbach in seinem Film macht Senez deutlich, dass Laura ihre Familie nicht verlässt, weil es hier keine Liebe gibt – im Gegenteil. Sie verlässt sie, weil sie nicht mehr kann, körperlich und seelisch ausgelaugt ist. Sie verlässt sie aufgrund sozialer Umstände, in denen man nicht einfach weitermachen kann wie bisher.

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Lauras Disposition ist die Disposition ihrer Klasse, individuelles Erleben ist hier Klassenerleben. Gleiches gilt für Olivier und die Kinder. Sie sind von Lauras Verlust traumatisiert, aber dabei handelt es sich bereits um ein soziales Trauma, um ein Erdbeben, dessen Schockwellen vom leer gewordenen Zentrum der abwesenden Ehefrau und Mutter sich ins Soziale hinein ausbreiten. Der Film registriert wie ein Seismograf die Vorläufer einer Bewegung, die erst später zur vollen Entfaltung kommen wird. Aber die Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit, nach humaneren Arbeits- und Lebensbedingungen sind bereits im Gange, man organisiert sich in der Gewerkschaft, in der auch Olivier zunehmend aktiv wird. Die soziale Gewalt ist im Film so offenbar, dass das Ausbleiben einer ihrerseits gewaltsamen Reaktion auf sie unvorstellbar wird.

Dennoch springt der Film noch nicht zur (politischen) Aktion. Er nimmt sich Zeit für das Trauma und den Schmerz, mit dem Olivier und seine Kinder umgehen müssen. Speckenbach hatte seinen Film mit trauriger Musik von Purcell untermalt. Senez ist viel trockener. Er zeigt die Ruhe vor dem Sturm, in der man sich (als Familie und soziale Bewegung) sammelt, neu ordnet und organisiert. Denn ob beim Abendessen, beim Vorlesen von Gutenachtgeschichten, auf dem Krankenhausflur oder der Polizeistation: Immer wird ruhig gesprochen, und gerade in dieser Ruhe können die Emotionen aufwallen und wieder zurückfliessen, kann sich innerhalb von nur einer Minute ein Mikrodrama ereignen. In Nos batailles kann eine Szene im Lachen beginnen, scheinbar übergangslos zu Streit und Tränen übergehen und wieder zur Versöhnung zurückführen. Der Schauplatz der «Schlachten» besteht in diesen Modulationen, in dieser Verdichtung widersprüchlicher Gefühlszustände.

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Dies konnte man schon in Senez’ Debütfilm Keeper (2015) beobachten, in dem zwei Teenager unerwartet Eltern werden. Dort ging das junge Paar spielerisch mit einem es überfordernden Ereignis um, hier bricht der Verlust der Mutter in die Welt von Kindern ein. Früher erwachsen werden zu müssen als notwendig, mehr zu wissen, als man verkraften kann – die Sensibilität dafür ist sicher auch der Drehbuchkoautorin Raphaëlle Desplechin zu verdanken, der Schwester des Regisseurs Arnaud Desplechin. Im Hintergrund des Films schimmert eine Kindheitserfahrung, die, zentriert um die Abwesenheit der Mutter oder der Geliebten, überschrieben ist von fantastischen und mythischen Figuren, die an ihre Stelle treten – wie in Desplechins Trois souvenirs de ma jeunesse (2015) und Les fantômes d’Ismaël (2017). Oder wie in Marco Bellocchios tollem Fai bei sogni (2016), in dem ein Journalist, der als Kind seine Mutter verlor, von der quälenden Frage verfolgt wird, was genau damals eigentlich passiert ist. Auch aus diesem Grund spricht aus dem Film die Sehnsucht, von den Abwesenden oder Verlorenen heimgeholt zu werden.

Aber Senez setzt noch einen anderen Akzent. Anders als bei Speckenbach folgen wir nicht der Frau, sondern bleiben die ganze Zeit über bei Olivier und den Kindern. Wie einige andere Filme der Gegenwart arbeitet auch dieser daran, neue Männer- und Vätertypen zu schaffen, die weich sind, liebe- und verständnisvoll, sich um die Kinder kümmern. Laura, die Mutter, so wird im Lauf des Films deutlich, kann man einfach mal in Ruhe und atmen lassen.

Lauras Name erinnert vielleicht nicht umsonst an die berühmte Figur des gleichnamigen Film noir von Otto Preminger von 1944, die bald selbst zur Verkörperung des Kinos, seiner Mysterien und seines Illusionszaubers wurde. Wie man weiss, ist Premingers Laura erst tot, um dann wiederzukehren. In Senez’ Film ist ihre Rückkehr für einen Zeitpunkt nach dem Film (und ausserhalb von ihm) reserviert: Aufgetankt mit neuer Lebensenergie, wieder bereit für die Familie und für den politischen Kampf, und höchstwahrscheinlich gekleidet in eine Gelbweste.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2019 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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